Projekt „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ des Stadtmuseums und Stadtarchivs Sindelfingen

Juli 1943 – Juli 2023
Kriegswirklichkeit und Durchhalteparolen

Das Projekt "Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg" stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt.
In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der u.a. die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt.
Die Texte sind auch auf der städtischen Homepage nachzulesen.
 
Folgender Text ist ab dem 21. Juli 2023 in der Vitrine im Stadtmuseum ausgestellt:
              
Gemeinhin wird die Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad Anfang 1943 als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs angesehen. Von da an befanden sich die deutschen Streitkräfte überwiegend in der Defensive und den Kriegsgegnern gelang es, verlorenes Gebiet nach und nach zurückzuerobern. Gleichzeitig begann auch die Siegeszuversicht unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung zu bröckeln. Die Luftangriffe der Alliierten brachten den Krieg zunehmend in die eigene Lebenswelt.
 
Eine Zusammenschau verschiedener Quellen, die uns für den Juli 1943 vorliegen, machen deutlich, wie sich dieser Prozess verstetigte und beschleunigte. Selbst in der gleichgeschalteten Presse lässt sich zwischen den Propagandaphrasen der wahre Kriegsverlauf erahnen, wenn von „heldenhaften Abwehrkämpfen“ oder „planmäßiger Verlegung“ von Streitkräften die Rede ist. In den täglichen Berichten von der russischen Front kann anhand der Nennung von Orts- und Flussnamen der Rückzugsweg der deutschen Armee nachgezeichnet werden. Mitte Juli landeten die Alliierten auf Sizilien und lösten damit Ende Juli den Sturz Mussolinis, des engsten Verbündeten Hitlers aus. In der Presse wurde dieses Ereignis als harmloser Regierungswechsel dargestellt.
 
In der Gemeinderatssitzung vom 29. Juli 1943 kündigt Bürgermeister Pfitzer an, dass möglicherweise mit der Aufnahme von 500 „Fliegergeschädigten aus dem Gau Essen“ zu rechnen sei. Hintergrund hierfür war die Luftoffensive, die die Alliierten im Frühjahr 1943 gegen das Ruhrgebiet starteten. Dabei ging es nicht nur um die Zerstörung von Industrieanlagen, sondern auch darum, durch Angriffe auf die Zivilbevölkerung eine Schwächung der deutschen Kampfmoral zu bewirken – was, wie wir heute wissen, misslang.
 
Am 26. und 27. Juli fand ein Großangriff von 600 Bombern auf Essen statt, in dessen Folge es dann vermutlich zu der besprochenen Ankündigung kam, Fliegergeschädigte auch nach Sindelfingen zu bringen. Umgesetzt wurde diese Maßnahme offensichtlich nie, zumal ja die Bedrohungslage durch Luftangriffe auch in unserer Region ständig zunahm.
 
Ein sehr persönliches Zeugnis für den wachsenden Zweifel am Sieg ist der Eintrag von Hans Steißlinger vom 2. Juli 1943 in das Rundbuch des Goldberg-Gymnasiums, der damaligen Adolf-Hitler-Oberschule. Dieses Buch hatten Abiturienten des Jahres 1940 als kollektives Tagebuch initiiert, um sich darin gegenseitig ihren weiteren Werdegang und ihre Kriegserlebnisse zu schildern.
 
Während die frühen Einträge von 1941/42 zumeist noch ungebrochene Siegeszuversicht und Kriegsbegeisterung verspüren lassen, werden die späteren Einträge zunehmend nachdenklich. So auch der von Hans Steißlinger, der in sehr poetischen Worten seinen Gemütszustand und seine Wahrnehmung der Entwicklung beschreibt: „Nicht die Hand, das Herz hat gezittert, denn es ist eine schwankende Brücke. Und eben sind einige Pfeiler eingestürzt. Weg, in brodelnde Tiefen. Wie sollte die Brücke noch tragen, wo die Last größer und immer größer, die Stützen aber schwächer und angefressener werden? …in dieser Nacht schien alles zu stürzen und zu brechen. Ja, alles, was wir noch an Glauben und Hoffnung hatten.“ Jenseits der metaphorischen Bilder ein Text von großer Hellsichtigkeit, was die persönliche und militärische Lage anbetrifft.
 
Die Schlussfolgerung, die Fritz Steißlinger aus diesen Zweifeln und der immer bedrohlicheren Lage zieht, zeigt uns allerdings, dass die nationalsozialistische Erziehung dieser Generation und die ununterbrochenen Propaganda ganze Arbeit geleistet hatten: „Volk, ich will dir treu sein!“ und „Es geht nicht anders und muss sein.“ lauten schließlich seine sowohl an sich selbst als auch an seine Mitschüler gerichteten Durchhalteparolen.